Theologie der Romantik: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert

Theologie der Romantik: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert
Theologie der Romantik: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert
 
Die Situation des deutschen Protestantismus war zu Beginn des 19. Jahrhunderts alles andere als rosig; die Kirchen leerten sich, während das kulturelle Leben, vor allem in Berlin, aufblühte: Eine dort ansässige Zeitung wagte sogar die Prognose, das Christentum werde in 20 Jahren verschwinden. Zu dieser Zeit erteilte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Prediger an der Berliner Charité, in seinen »Reden über die Religion an die gebildeten unter ihren Verächtern« der Aufklärung und ihrer Theologie eine radikale Absage. Religion sei weder Metaphysik noch Moral, weder Denken, noch Handeln, sie sei vielmehr entscheidend bestimmt durch Anschauung und Gefühl. Damit wandte er sich nicht nur gegen die abstrakte »natürliche Theologie« der englischen Deisten, sondern brach gleichzeitig mit der philosophischen Tradition seiner Zeit, die ihre Aufgabe darin sah, zwischen Glauben und Wissen zu vermitteln. Gegen die von der Aufklärung propagierte Privatreligion hielt er am Gemeinschaftscharakter von Religion fest.
 
Schleiermacher erwies sich als Vertreter einer Religion der Romantik; Religion wird von ihm als Geschichte des inneren Erlebens und Erfahrung einer »schlechthinnigen Abhängigkeit« interpretiert: Dogmen seien nichts anderes als zeitgebundene Ausdrucksformen dieser Erfahrung. Folglich könne es gar keinen Gegensatz zwischen Vernunft und Religion geben. Das religiöse Gefühl der Abhängigkeit schließe eine derart intensive Gotteserfahrung mit ein, dass sich Gottesbeweise völlig erübrigten. Moralisches Handeln sei nicht so sehr ein Erfordernis der praktischen Vernunft als dem unverrückbaren Sittengesetz - wie in Kants kategorischem Imperativ -, sondern setze eine freie, willentliche Entscheidung des Menschen voraus, die sich konkreten Veränderungen stellt und auch an Zielen orientiert.
 
Eine eher konservative Strömung der protestantischen Theologie nahm SchleiermachersAufklärungskritik auf. Ihre Antwort auf die rationalistischen Herausforderungen der Zeit stellte die »Theologie des Herzens«, die »Pectoraltheologie«, dar. Deren Grundsatz lautete: »Das Herz ist es, was einen Theologen ausmacht.« Auf systematischem Gebiet zeichnete sie sich durch einen Rückgriff auf die augustinische (Erb-)Sündenlehre aus, während ihre historische Theologie Gefahr lief, sich in frommen Biographien zu erschöpfen. Im Neuluthertum verstärkten sich diese rückwärts gewandten Tendenzen, die in Ernst Wilhelm Hengstenberg ihren Höhepunkt erreichten. Für ihn bildete die Wissenschaftlichkeit der Theologie eine Bedrohung für den Glauben; historisch-kritische Methode und Unglaube schienen in eins gesetzt werden zu können. Theologisch bedeutsam wurde diese Strömung durch die Erfahrungstheologie der Erlanger Schule: Die persönliche Erfahrung sittlicher »Wiedergeburt« erlaubt es dem Einzelnen, die Wahrheit von dogmatischen Aussagen und Glaubensgegenständen zu erfassen. Damit war die Glaubwürdigkeit von Dogmen prinzipiell an die Bestätigung durch die menschliche Erfahrung gekoppelt.
 
Im Gegensatz zu dieser konservativen Theologie hielt der theologische Liberalismus, vornehmlich der eng mit ihr verbundene Kulturprotestantismus, den wissenschaftlichen Fortschritt für den Ausdruck einer gottgewollten kulturellen Entwicklung. Selbst die Evolutionstheorie Darwins suchte man zeitweilig in den Schöpfungsglauben zu integrieren. Eine Verbindung von. Christentum und Kultur schien der einzig erfolgversprechende Weg zu sein, dem Christentum wieder größere gesellschaftliche Relevanz zu verleihen - ein Vorhaben, dem sich auch der 1863 gegründete »deutsche Protestantenverein« verschrieb.
 
Die historisch-kritische Forschung wurde vor allem von Ferdinand Christian Baur und Adolf von Harnack vertreten und publik gemacht. Baur, der akademische Lehrer von Strauß, wandte sich zwar gegen das Werk seines Schülers. Doch auch er hielt die historische Kritik für wichtig, denn sie könne etliche Lehrinhalte, an denen die Kritik des Christentums Anstoß nehme, als nicht zum Kernbestand des Christlichen gehörig erweisen und das Christentum so von falschen Beweiszwängen entlasten. Baur wurde zwar zum Begründer der evangelischen Tübinger Schule, doch keiner seiner Schüler erhielt einen theologischen Lehrstuhl, sie mussten vielmehr ihr Auskommen als Historiker oder in der Philosophie suchen. Harnack, in der neuen Disziplin der Dogmengeschichte Baurs Widersacher, betonte den apologetischen Charakter der Dogmen: Denn Dogmen richteten sich vor allem gegen als häretisch deklarierte Extremauffassungen, gegen die sich die Kirchenleitung eine verbindliche Position zu definieren gezwungen sah. Für Harnack stellte die dogmatische Entwicklung einen inzwischen zum Abschluss gelangten Prozess dar, in dem sich zahlreiche äußere Einflüsse - besonders aber der des Hellenismus - niedergeschlagen haben. Das Evangelium Jesu habe weder Dogmen vorgesehen noch gebraucht.
 
Harnacks geschichtliche Betrachtung des Christentums wurde in der religionsgeschichtlichen Schule fortgesetzt. Hervorragender Vertreter dieser Schule wurde Ernst Troeltsch. Auch ihm ging es um das Wesen des Christentums, jedoch erstmals aus religionssoziologischer Sicht: Unterschiedliche Sozialformen wie Kirche, Sekte oder Mystik hätten unterschiedliche Christusbilder zur Folge gehabt. So müsse die Großkirche Jesus Christus als Erlöser und als Basis für Amt und Verkündigung verstehen; die kleine Gemeinschaft einer Sekte betone das endzeitliche Gedankengut und die Naherwartung der anbrechenden Gottesherrschaft, die Mystik schließlich als eine individualistische Lebensweise könne Gott im Innern des Menschen finden, darum keine institutionalisierbare Sozialform prägen, sodass damit erneut nur die Vereinigung der Seele mit Gott als erstrebenswert erscheine. Beeinflusst vom Historismus konnte Troeltsch keine absoluten und bleibenden Fixpunkte in der Geschichte erkennen, die Religionen sind für ihn einander prinzipiell gleichwertig, sodass auch das Christentum auf seine Sonderstellung, seinen Absolutheitsanspruch und die Vorstellung alleiniger Heilsrelevanz verzichten müsse.
 
Zwischen den beiden Hauptlinien protestantischer Theologie, der konservativen und der liberal-kulturprotestantischen, etablierte sich früh eine dritte, die zwischen beiden Lagern zu vermitteln suchte. Diese Vermittlungstheologie zeigte sich überzeugt davon, dass sich die kirchlichen Schulmeinungen verändern müssen, wandte sich aber zugleich gegen die radikal-aufklärerischen Positionen, die Religion ganz in Anthropologie überführen wollten. An dem Traditions- und Offenbarungsbegriff wurde festgehalten, schließlich sollte die Vermittlung auch eine Annäherung von Lutheranern und Reformierten leisten.
 
Richard Rothe, vor allem aber auch Albrecht Ritschl verstand es, die beiden großen Anliegen der Epoche, Biblizismus und Ethik beziehungsweise Geschichte und Ethik miteinander zu verbinden. Dies gelang mit dem Reich-Gottes-Gedanken, dem Hauptinhalt der Botschaft Jesu; das Reich Gottes wurde nicht als endzeitliche Gröbe, sondern als eine sittliche Aufgabe im Diesseits aufgefasst. Die gemeinschaftlichen Anstrengungen der Christen könnten zur Verchristlichung der Welt führen und seien damit eine Verlängerung und Fortsetzung des göttlichen Schöpfungsaktes. Ein solches Reich Gottes war offen für politische Entwürfe und konnte die sozialethischen Impulse, die sich aus Industrialisierung und sozialer Frage ergeben hatten, bündeln und auf die Gestaltung eines innerweltlichen Gottesreichs richten; damit war es letztlich sogar möglich, zwischen Sozialismus und Christentum eine Brücke zu schlagen.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Flückiger, Felix: Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1975.
 
Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 
Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, herausgegeben von Jean-Marie Mayeur u. a. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox. Band 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830—1914). Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.
 Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Aus dem Dänischen. Göttingen 1987.
 Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
 Mühlenberg, Ekkehard: Epochen der Kirchengeschichte. Heidelberg u. a. 21991.
 Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen 41993.

Universal-Lexikon. 2012.

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